Veranstaltungsbericht: Muslimische Gemeinden während der Corona-Krise

Am 14. Mai 2020 fand die erste Online-Diskussionsrunde im Rahmen des Projekts „MuslimDebate – Forum für eine neue muslimische Debattenkultur“ statt. Das Projekt MuslimDebate, gefördert im Rahmen der Deutschen Islam Konferenz , hat es sich zum Ziel gesetzt, mit einer Reihe von nichtöffentlichen und öffentlichen Veranstaltungen unterschiedliche Akteure der muslimischen Zivilgesellschaft zusammenzubekommen, um den innermuslimischen Diskurs auf eine neue Ebene zu bringen. Die geplanten Präsenz-Veranstaltungen können aufgrund der aktuellen Corona-Maßnahmen zwar noch nicht umgesetzt werden, dafür soll nun in einer neu ins Leben gerufenen Online-Veranstaltungsreihe die Idee des Projekts bereits umgesetzt werden.

Die Videoaufzeichnung der Diskussionsrunde auf YouTube

Das Thema der ersten Debattenrunde war die Auswirkungen der Corona-Krise auf das muslimische Gemeindeleben. Eingeladen waren unterschiedliche muslimische Diskutanten, die aufgrund ihrer beruflichen Hintergründe unterschiedliche Zugänge zu dem Thema haben. Mit Omar Kuntich, der in seiner Funktion als Geschäftsführer vom Bündnis Malikitische Gemeinde Deutschland e.V. zahlreiche Moscheegemeinden vertritt, war eine Verbandsperspektive anwesend. Mit Benjamin Idriz von der Islamischen Gemeinde Penzberg brachte ein Imam seine Perspektive aus einer lokalen Gemeinde mit in die Diskussion ein. Und mit Prof. Dr. Serdar Kurnaz aus dem Berliner Institut für Islamische Theologie (Humboldt-Universität zu Berlin) war die wissenschaftliche Perspektive vertreten.

Kuntich und Idriz betonten, dass alle muslimischen Gemeinden bereits sehr frühzeitig notwendige Maßnahmen aufgrund der Corona-Pandemie ergriffen haben, in dem erst die Freitagsgebete in den Moscheen ausgesetzt und dann im nächsten Schritt die Moscheen für sämtliche Gebete geschlossen worden sind. Während dieser Zeit gab es einen sehr engen Austausch mit der Politik und den Kommunen vor Ort. „Ob es jetzt malikitische, türkische oder bosnische Gemeinden waren, wir haben alle miteinander kommuniziert und haben versucht die richtigen Maßnahmen zu ergreifen“, betonte Kuntich.

Für Imam Idriz war es in den ersten Tagen nicht einfach, die Gemeinde davon zu überzeugen, dass das Freitagsgebet erst einmal nicht stattfinden kann. „Ich musste einige Gemeindemitglieder davon überzeugen, wie wichtig es ist momentan bestimmte Regeln zu beachten. In einer alternativen Predigt am Freitag habe ich dann aus islamischer Sicht begründet, warum das Freitagsgebet oder die anderen Gebete in einer Pandemie nicht in Gemeinschaft stattfinden sollen“.

Prof. Kurnaz verwies in diesem Zusammenhang auf Argumentationsgrundlagen aus dem Islamischen Recht. Es gäbe Grundprinzipien im Islamischen Recht, die rechtsschulenübergreifend akzeptiert seien. Und einer dieser Grundprinzipien sei es, einen Schaden zu beheben oder einen drohenden Schaden zu verhindern. „Das islamische Recht ist auf dem Grundprinzip aufgebaut, dass man einen Schaden (z.B. Tod) abwendet und einen Nutzen (spirituelle Angebote fürs Leben, religiöse Pflichten etc) herbeiführt. Wenn man hier abwägen muss, dann ist das islamische Recht eigentlich klar darin, zu sagen: Schaden muss immer behoben bzw. verhindert werden“, so Kurnaz.

Die Corona-Krise habe auch gezeigt, so Kurnaz, wie stark rationalistisch Muslime heutzutage argumentierten. „Wir sind hier in einem sehr sensiblen Bereich, wo wir ganz starke Argumente brauchen, denn wir sind in dem Bereich der gottesdienstlichen Handlungen.“ Und die hätten die Qualität, unveränderbar zu sein, und dass man sie nicht mit rationalen Argumenten anpassen oder an ihnen schrauben dürfe. Daher brauche es wirklich stabile Grundlagen und Argumentationsstrukturen, die auch unumstößlich seien, so Kurnaz. „Es gibt Rechtsschulen die sagen, dass der Mensch intuitiv schon so handelt, wie es den größten Nutzen für den Menschen bringt. Und das ist auch im Sinne des islamischen Rechts. Und da kann Corona eine Möglichkeit sein, darüber theologisch zu reflektieren und das islamische Recht dynamischer oder offener zu gestalten“, betont Kurnaz.

Während die Mitgliedsverbände des Koordinationsrats der Muslime (KRM) mit einem 16-Maßnahmen-Plan ab dem 9. Mai ihre Moscheen schrittweise für Gebete öffneten, entschieden sich Kuntich und Idriz zunächst gegen eine schrittweise Öffnung. Idriz hat nach einer Beratung mit seiner Gemeinde zunächst einen Testversuch unternommen und die Moschee für zwei Stunden geöffnet, um das Nachmittagsgebet zu beten und die Muqabala (Koranreziation im Ramadan) anzubieten. „Wir haben 20-30 Leute erwartet, aber es kamen nur 2 Besucher“, so Idriz. Als Gemeinde habe man schnell realisiert, dass es keinen Sinn mache, und dass die große Mehrheit der Gemeindemitglieder dafür war, die Moschee weiterhin geschlossen zu halten. Stattdessen bietet Imam Idriz im ganzen Monat Ramadan die Muqabala und auch weitere Angebote online mit einem Live-Stream an, was auch von der Gemeinde sehr gut angenommen werde.

Idriz betont auch, dass man die Menschen beim Eingang in die Moschee nicht selektieren dürfe. Denn aufgrund der Einschränkungen und den Abstandsregeln könnten nur ein Bruchteil der Gemeinde in die Moschee. „Auch wenn Penzberg eine repräsentative Moschee ist, wo normalerweise ca. 400 Leute gemeinsam beten können, können mit diesen Maßnahmen bei uns nur 40 Leute beten. Und wir machen keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen. Wer sind diese ausgewählten Personen?“

Kuntich und das Bündnis Malikitischer Gemeinden hat sich auch gegen eine schrittweise Öffnung der Moscheen bereits im Ramadan entschieden. Man wollte keine Diskussion vor den Moscheen haben, warum nur 50 Menschen am Gebet teilnehmen können und nach welchen Kriterien ausgewählt werde. Natürlich sei es insbesondere für die älteren Gemeindemitglieder keine einfache Situation, da die Moschee auch ein wichtiger sozialer Raum für sie sei. „Deswegen haben wir unsere Imame angewiesen, Seelsorge verstärkt telefonisch zu betreiben. Und die Imame müssen sich darauf vorbereiten, dass in Zukunft ein Teil ihrer Arbeit auch online stattfinden muss. Dahingehend müssen wir unsere Imame fortbilden“, fordert Kuntich.

Auch Prof. Kurnaz sieht die schrittweise Öffnung der Moscheen als zu früh an. Islamrechtlich gesehen sei dieser Schritt nicht notwendig. Kurnaz vermutet aber, dass nicht die islamrechtliche Bewertung der Situation, sondern ein anderer Faktor zu dieser schrittweisen Öffnung geführt haben könnte. Kurnaz: „Moscheen sind soziale Orte besonders für ältere Menschen. Junge Menschen gehen vielleicht nicht so regelmäßig in die Moscheen. Aber diese jungen Menschen werden die Älteren von morgen sein, die diese sozialen Orte in Anspruch nehmen werden. Und damit diese Wahrnehmung der Moschee als sozialer Ort in jungen Jahren überhaupt entstehen kann, ist es für viele Gemeinden wichtig jetzt Präsenz zu zeigen. Wenn wir jetzt seit zwei Monaten und auch noch im Ramadan ohne Moscheen zurechtkommen können, dann wird sich vielleicht der Gedanke einbrennen bei vielen, dass es auch ohne Moscheen gehen könnte, dass man über Online-Angebote die Lücke füllt. Daher kann ich die stückweise Öffnung der Moscheen ein Stück weit nachvollziehen.“

Die Audioaufzeichnung der Veranstaltung finden Sie auf Spotify, Apple Podcast und deezer:

Ein wichtiger Punkt in der Diskussion über die Auswirkungen der Corona-Krise auf muslimische Gemeinden war auch die Frage der Finanzen. Denn viele Gemeinden berichten von sehr starken Rückgängen bei Spenden, so dass sie vor schweren finanziellen Problemen stehen. Imam Idriz regt an, dass die Zakat auch dem Land zu Gute kommen müsse, in dem man lebe. „Wir sollten einen Fond gründen, insbesondere in diesem Jahr, in diesem Ramadan. Mit diesem Fond könnte man die muslimischen Gemeinden in Deutschland stützen. Das sollte Priorität haben. Danach kann man immer noch Gelder in andere Länder schicken“, so Idriz.

Auch Kurnaz spricht sich für mehr Pragmatismus und Offenheit bei der Frage der Zakat aus. „Unser Problem liegt hier durchaus in der gelebten Religionspraxis“, so Kurnaz. „Wir brauchen eine neue Organisationsform. Und alldiejenigen, die jetzt diesen Begriff hier hören und stöhnen, brauchen gar nicht zu stöhnen: Wir haben einen Islam europäischer oder deutscher Prägung. Wir reden von Moscheen als soziale Orte, wo gibt es das in Marokko oder in der Türkei? Das heißt, wir haben hier schon eine gewisse Prägung und in diese Richtung muss auch gearbeitet werden. Wir haben ein Finanzierungsproblem, aber wir haben auch Formate, die wiederbelebt werden können, wie zum Beispiel bestimmte Stiftungsformate, die sogenannte Waqf. Es gibt also schon mal eine Idee, es anders zu strukturieren. Die jetzigen Strukturen sind nicht ausreichend“, betont Kurnaz.

Kuntich machte auch den Vorschlag, dass etwa größere Gemeinden, die finanziell besser aufgestellt sind, eine Patenschaft für kleinere Gemeinden übernehmen, um diese vor einer Schließung zu retten. Hier müsse man verbandsübergreifend handeln. „In jedem Unheil ist auch ein Heil für die Menschheit. Es ist auch eine einmalige Gelegenheit für uns Muslime in Deutschland, dass wir uns mehr denn je in dieser Gesellschaft verorten und unseren aktiven Beitrag leisten“, so Kuntich. In dieser ersten sehr spannenden Debattenrunde kamen nicht nur die aktuellen Herausforderungen der muslimischen Gemeinden in der Corona-Krise zur Sprache, sondern es wurden auch einige wichtige Grundsatz- und Strukturfragen der muslimischen Community in Deutschland kurz angerissen. Diese wichtigen Aspekte werden wir im Rahmen von MuslimDebate in den kommenden Veranstaltungen noch intensiver behandeln.

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