Sehr schnell wurde bei einer Podiumsdiskussion im Rahmen des Projekts MuslimDebate 2.0 klar, dass zwischen Religionspolitik, den Debatten um Migration und Integration sowie um Identität und Zugehörigkeit sehr enge Zusammenhänge bestehen. Am 10.10.2024 hatte die Alhambra Gesellschaft in Kooperation mit der Evangelischen Akademie zu Berlin ins Haus der EKD eingeladen. Gäste auf dem Podium waren Lamya Kaddor, Bundestagsabgeordnete von Bündnis 90/DIE GRÜNEN und religionspolitische Sprecherin der Fraktion; Jens Spahn, Bundestagsabgeordneter der Fraktion der CDU/CSU und stellvertretender Fraktionsvorsitzender sowie Daniel Botmann,Geschäftsführer des Zentralrats der Juden in Deutschland. Die Diskussion leitete Eren Güvercin, Projektleiter und Mitglied der Alhambra Gesellschaft.
Religionspolitische Herausforderungen
Nach der Begrüßung der Teilnehmenden durch Christina Sawatzki, Studienleiterin an der Evangelischen Akademie zu Berlin, ging es direkt zur Sache. Gefragt war nach den religionspolitischen Schwerpunkten der gegenwärtigen Bundesregierung. Lamya Kaddor als Mitglied einer der Regierungsparteien betonte, dass grundlegendes Ziel sei, die Vielfalt religiösen Lebens in Deutschland sichtbarer zu machen. Stichwortartig verwies sie auf den sich seit vielen Jahren abzeichnenden Prozess zu einer multireligiösen Gesellschaft und hob hervor, dass christliches und jüdisches Leben, aber auch muslimisches Leben zur deutschen Gesellschaft gehören. Welche politischen Entscheidungen auf Bundesebene dazu führen sollen, die Vielfalt religiösen Lebens in Deutschland sichtbarer zu machen, blieb leider in der Schwebe. Als größeres religionspolitisches Projekt nannte sie die Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen, ein Vorhaben, das schon in der Weimarer Verfassung von 1919 festgelegt ist. Angesichts der föderativen Struktur religionspolitischer Kompetenzen plane der Bund ein sogenanntes Grundsätzegesetz, während die Länder die finanziellen Leistungen aufbringen müssten. Sie meinte, dass der Gesetzentwurf eigentlich ausverhandelt sei, jedoch die Länder aufgrund der zu erwartenden finanziellen Belastungen kein großes Interesse hätten, ein solches Gesetz zu verabschieden. Sie hält es für möglich, dass der Bund das Grundsätzegesetz beschließt und die Länder die Modalitäten der finanziellen Leistungen mit den Kirchen jeweils separat aushandeln. Als weiteres Vorhaben nannte sie die Frage der Angleichung des kirchlichen Arbeitsrechts an das allgemeine Arbeitsrecht.
Die gegenwärtige Herausforderung der Religionspolitik besteht für Jens Spahn darin, eine überzeugende Antwort auf die Frage zu finden, wie es gelingen könnte, eine tragfähige Struktur aufzubauen, um muslimisches Leben als eigenständiger Teil der deutschen Gesellschaft zu etablieren. Wesentlicher Faktor sei, dass sich ein Selbstverständnis deutscher muslimischer Gemeinden in Deutschland entwickele. Er konstatierte, dass ein großer Teil der muslimischen Gemeinden und Verbände in Deutschland türkisch beeinflusst sei bzw. sich in unterschiedlicher Weise an den Herkunftsländern orientieren würde. Eine solche Haltung hebe jedoch eher das Abgrenzende hervor, meinte er.
In aktuellen Debatten müsse berücksichtigt werden, dass sich die Zusammensetzung des muslimischen Teils der deutschen Bevölkerung in den vergangenen Jahren gravierend verändert habe. Während in den 1960er bis in die 1970er Jahre vorwiegend Arbeitsmigrant:innen aus der Türkei oder z.B. auch aus Marokko in die Bundesrepublik gekommen wären, die als „Gastarbeiter“ betrachtet wurden, habe sich die muslimische Community durch Geflüchtete aus dem Nahen Osten, aus dem asiatischen und afrikanischem Raum deutlich verändert. Zudem müsse ein Wandel der politischen Bedeutung des Islam z.B. in der Türkei beachtet werden. In den 1960er/1970er Jahren seien die Zuwanderer:innen aus einer laizistisch geprägten Türkei nach Deutschland gekommen. Vor diesem Hintergrund sei die türkische Religionsbehörde von der Bundesregierung eingeladen worden, türkischstämmigen Muslime in Deutschland seelsorgerlich zu betreuen. Das habe auch zur Gründung des größten muslimischen Verbands in Deutschland, der DITIB, geführt. Rückblickend schätzte er die Entwicklung in den vergangenen Jahrzehnten so ein, dass man zu lange mit „den weniger Radikalen“ zusammengearbeitet habe, um die „ganz Radikalen“ zu bekämpfen. Spahn kritisierte, dass von der Politik in den zurückliegenden Jahren zu viele Entwicklungen hingenommen worden wären und nun sich die Probleme häuften, wie er mit dem Hinweis auf kritische Entwicklungen in Frankreich und Belgien unterstrich.
Aus seiner Sicht sei es dringend geboten, Rahmenbedingungen für die Entwicklung eines vom Ausland unabhängigen Islams in Deutschland zu schaffen und entsprechende Strukturen zu ermöglichen. Das betreffe z.B. eine eigenständige Imamausbildung, Regelungen zur Durchführung islamischen Religionsunterrichts in Schulen sowie die Frage nach dem Status des Islam als Religionsgemeinschaft. Ein wichtiger Schritt sei zwar die Einrichtung von islamisch-theologischen Lehrstühlen an Universitäten gewesen, doch bislang müsse zur Kenntnis genommen werden, dass die Absolvent:innen dieser Studiengänge keine hohe Akzeptanz in den muslimischen Gemeinden genießen würden. In Hinblick auf den Religionsunterricht sei ein großes Problem, die richtigen Ansprechpartner zu finden und bezogen auf den Status des Islam als Religionsgemeinschaft müsse man sich auch mit strukturell-organisatorischen Aspekten befassen. Eine mögliche Perspektive sieht er in einer Verabschiedung eines Islamgesetzes wie in Österreich oder in Frankreich, wobei er auf die damit verbundenen verfassungsrechtlichen Probleme hinwies und die Befürchtungen der Kirchen gegenüber einem weitgehenden Eingriff in die Religionsfreiheit erwähnte. Er sei jedoch der Überzeugung, dass die Problemlage aktuell so massiv sei, dass unmittelbarer Handlungsdruck besteht. Deshalb wäre er auch bereit, die Verfassung zu ändern, falls dies erforderlich sei. Gegenüber den islamischen Religionsgemeinschaften müsse man Brücken bauen und über tragfähige Finanzierungsregelungen nachdenken. Eventuell könne man auch über eine Stiftungslösung nachdenken, um damit übergangsweise adäquate Rahmbedingungen für die Stärkung eines deutschen Islam zu schaffen. Er sei nicht mehr bereit, zu akzeptieren, dass immer sofort gesagt werde, das gehe nicht.
Lamya Kaddor war sich mit Jens Spahn einig, dass bezogen auf Anerkennung und den Ausbau eigenständiger Strukturen muslimischer Religionsgemeinschaften ein enormer Handlungsdruck besteht. Sie kritisierte, dass die Debatte über diese Frage sich nun schon über mehrere Jahrzehnte hinzieht. Das führe dazu, dass immer wieder in Teilen der muslimischen Community beklagt wird, dass man nicht die gleichen Rechte wie andere Religionsgemeinschaften habe. Das mache es Islamisten leicht, ihre Botschaften zu verbreiten und Anhänger:innen zu gewinnen. Man müsse auch bedenken, dass Islamismus und Islamfeindlichkeit sich wechselseitig bedingen. Aktuell lebten ca. sechs Millionen Menschen muslimischen Glaubens in Deutschland, was einen Anteil von 6 % an der Bevölkerung ausmache und es sei davon auszugehen, dass sich dieser Anteil aufgrund der demografischen Entwicklung zukünftig erhöhe. Auch sie signalisierte Bereitschaft, sich notfalls für eine Änderung des Grundgesetzes einzusetzen, denn die vorherrschenden religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen würden nicht zu den Strukturen des Islam passen.
Demgegenüber plädierte Daniel Botmann dafür, sich das gegenwärtige Religionsverfassungsrecht, das schon in der Weimarer Verfassung enthalten sei, noch einmal genauer anzuschauen. Es regele das Verhältnis zwischen Staat und Religionsgemeinschaften. Seiner Ansicht nach funktioniert das Zusammenspiel zwischen Staat und den Religionen sehr gut. Für die Weimarer Verfassung habe man eine gute Lösung gefunden, die für die Religionsgemeinschaften Grundlagen geschaffen hätten, sich im Gesundheitsbereich, in der Bildung und mit zahlreichen sozialen Einrichtungen als eigenständige Träger zu etablieren. Das aktuelle Religionsverfassungsrecht passe durchaus auch für die jüdische Religionsgemeinschaft, die wie der Islam, ebenfalls nicht analog kirchlicher Strukturen organisiert sei. Eine Änderung des Grundgesetzes sei nach seiner Auffassung deshalb nicht erforderlich. Er spricht sich dafür aus, Bewährtes zu bewahren und dort, wo es Probleme gibt, Anpassungen vorzunehmen. Als eines dieser Probleme nennt er das Stichwort Auslandsfinanzierung.
Sowohl Frau Kaddor als auch Herr Spahn wiesen darauf hin, dass man in Hinblick auf eine Stärkung muslimischen Lebens in Deutschland kritisch prüfen müsse, welche Verbände und Organisationen als Religionsgemeinschaften anerkannt werden könnten. Jens Spahn nannte einige grundsätzliche Fragen kulturell-religiöser Prägung, über die ein gesellschaftlicher Diskurs zwingend erforderlich sei. Diese kulturell-religiösen Prägung hätten z.B. im Alltag einen Hass auf Juden integriert, sie stelle die Gleichberechtigung von Frau und Mann in Frage, sie weise große Probleme mit gesellschaftlichen Minderheiten auf und er erwähnte die Problematiken von Zwangsheiraten und Ehrenmorden als Elemente eines reaktionären Gesellschaftsverständnisses. Beide, Kaddor und Spahn, beklagten, dass liberal-progressive Verbände in der muslimischen Community eine rare Minderheit darstellen.
Finanzierung und selbstbewusste Eigenständigkeit
Ins Gespräch wurde die These eingebracht, dass das muslimische Leben in Deutschland stärker durch den türkischen Staat, z.B. durch die DITIB, geprägt werde als durch den deutschen Staat. Offensichtlich habe die langjährige Strategie eines ‚Wandels durch Nähe‘ – eine engere Zusammenarbeit mit einigen muslimischen Verbänden – nicht zu den gewünschten Strukturen auf Bundes- und Landesebene sowie zur Unabhängigkeit von Verbänden und Moscheegemeinden als Organisationen deutscher Muslime geführt. Jens Spahn erläuterte die Idee, dass es Initiativen von Seiten des Staates erfordert – trotz bestehender religionsverfassungsrechtlicher Bedenken –, um bundesweite Strukturen unabhängiger muslimischer Religionsgemeinschaften aufzubauen. Dazu gehöre, dass die Finanzflüsse aus dem Ausland nicht ohne Alternative unterbunden werden könnten. Denkbar wäre auf freiwilliger Basis eine Finanzierung für Moscheegemeinden zu schaffen, die an bestimmte Bedingungen geknüpft ist. Diese Strategie müsste mit zahlreichen Initiativen zur Förderung der Integration der muslimischen Community in die deutsche Gesellschaft und zur Begleitung von Prozessen der Identitätsbildung zu verbinden, um ein muslimisches Leben in Deutschland, das unabhängig, selbstbewusst und offen gegenüber der deutschen Gesellschaft ist und sich geistig in diesem Land verortet, zu ermöglichen.
Damit sich eine selbstbewusste, eigenständige und sich in Deutschland heimisch fühlende muslimische Community etablieren kann, müssten strukturelle Rahmenbedingungen und identitätsstiftende Faktoren bezogen auf das Aufwachsen und in Hinblick auf die alltägliche Lebensbewältigung in einer Einwanderungsgesellschaft in den Blick genommen werden. Gleichzeitig gilt es, sich der häufig marginalisierenden und ausgrenzenden Erfahrungen von Zugewanderten und ihrer nachwachsenden Generationen bewusst zu sein. So haben Erfahrungen, dazuzugehören, als Person vorbehaltlos akzeptiert und respektiert zu sein und nicht nur überwiegend als fremd gelesen zu werden, für Identitätsbildung und die gesellschaftliche Verortung enorme Bedeutung. Welchen Einfluss biografische Erfahrungen haben, sich als Person als selbstverständlicher und vorbehaltlos anerkannter Teil der Gesellschaft erleben zu können, wurde durch Schilderungen von Lamya Kaddor sehr deutlich. Als Tochter syrischer Migranten in einer westfälischen Kleinstadt aufgewachsen und nach dem Studium als Lehrerin tätig, konnte sie nachvollziehbar schildern, wie Mechanismen funktionieren, zu Fremden gemacht zu werden und erleben zu müssen, nicht selbstverständlicher Teil einer irgendwie definierten Normalität der Gesellschaft zu sein. Sie wies darauf hin, dass deutsch und muslimisch Sein von weiten Teilen der Bevölkerung als Widerspruch betrachtet werde. Auch würden viele Muslim:innen immer noch eine Art Minderwertigkeitskomplex in sich tragen, der ihnen durch Erziehung und Sozialisation vermittelt worden sei. Sie sei jedoch zuversichtlich, denn inzwischen gebe es sehr viele muslimische Menschen, die eine gewisse Erfolgsgeschichte hinter sich hätten. Diese verständen sich selbstverständlich als Deutsche muslimischen Glaubens.
Die skizzenhaft beschriebenen Erfahrungen belegen, dass Anerkennung nicht nur juridische Aspekte hat, sondern auch auf persönlicher Ebene erfahren und im Alltag erlebt werden muss, um sich als Angehörige einer Religionsgemeinschaft als respektierter und anerkannter Teil eines Gemeinwesens verstehen zu können.
Der Überfall der Hamas vom 7.Oktober 2023 und seine Auswirkungen in Deutschland
Das Podiumsgespräch fand nur wenige Tage nach dem 1. Jahrestag des schrecklichen Überfalls der Hamas am 7. Oktober 2023 auf Israel und vor dem Hintergrund des Kriegs mit der Hamas in Gaza und mit der Hisbollah im Libanon statt. In Deutschland zeigen sich die Auswirkungen dieser Konflikte u.a. in einem rapide angestiegenen Antisemitismus, aber auch in Kundgebungen von Aktivisten gegen Angriffe Israels in Gaza und in Libanon, in denen zahlreiche Opfer in der Zivilgesellschaft beklagt werden. So war es naheliegend, sich mit dieser Thematik in einem Abschnitt der Podiumsdiskussion zu beschäftigen. Daniel Botmann wurde gefragt, welche Erwartungen die jüdische Gemeinde in diesem Zusammenhang an den Staat und die Politik hatte bzw. hat. Er meinte, alle Forderungen seien bekannt. Die Politik habe diese in zwei sehr guten Entschließungsanträgen – einer von den Ampelfraktionen, einer von der CDU/CSU – nach dem Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 selbst aufgeschrieben. Bei den Beratungen im Bundestag sei dann beschlossen worden, einen überfraktionellen Antrag zur Abstimmung zu bringen. Doch bis zum heutigen Tag sei es den Parteien nicht gelungen, aus zwei Anträgen einen gemeinsamen zu schmieden. Für diese extreme Verzögerung habe die jüdische Gemeinschaft nicht das geringste Verständnis und sie betrachte diesen Vorgang als ein Totalversagen der Politik. Auch in Hinblick auf Stellungnahmen der muslimischen Verbände könne nur von einer grundlegenden Enttäuschung gesprochen werden. Die Verbände hätten es nicht geschafft, emphatische Worte zu finden, um das Schreckliche des Terrorismus zu benennen und das Abschlachten unschuldiger Menschen zu beklagen sowie gegenüber den Menschen, den Familien und den Angehörigen der Opfer und der Geiseln ihr Mitgefühl zum Ausdruck zu bringen. Daher sei es auch nicht verwunderlich, dass die zarten Pflänzchen der Hoffnungen auf jüdisch-muslimische Begegnungen und eines Dialogs zwischen den beiden Religionen an der Basis nun völlig erstarrt sind. Nach der Zäsur des 7. Oktober sei es schwierig, Menschen zu gewinnen, sich auf einen Dialog einzulassen, wenn die potenziellen Gegenüber noch nicht einmal die Empathie aufbrächten, die Vergewaltigung von Frauen und das Verbrennen von Kindern als fürchterliche Taten zu benennen.
Er sei jedoch davon überzeugt, dass wir Konflikte im Ausland, ob im Nahen Osten oder woanders, nicht nach Deutschland importieren dürfen. Im Vordergrund müsse stehen, die Kräfte innerhalb der muslimischen Community zu stärken, die am Dialog interessiert sind und sich für eine positive Mitgestaltung der deutschen Gesellschaft engagieren wollen.
Lamya Kaddor hätte sich gewünscht, dass die muslimischen Verbände sich in Stellungnahmen deutlicher von Terrorismus und Gewalt distanzieren und damit auch einen Beitrag für den Zusammenhalt in Deutschland geleistet hätten.
Migration und Integration
Die Debatte um Migration sei gegenwärtig massiv aufgeladen, meinte Eren Güvercin zur Einleitung in die Diskussionsrunde zur Migration und Integration. Obwohl Muslim:innen schon seit vielen Jahren in Deutschland lebten, würde aktuell wieder sehr deutlich, dass sie in der Gesellschaft immer noch als etwas Fremdes, wenn nicht gar Bedrohliches wahrgenommen werden. Von Daniel Botmann interessierte ihn, wie dieser auf diese zugespitzte Debatte blickt.
Herr Botmann erläuterte, dass die Diskussion über Migration und Integration in der jüdischen Community sehr virulent sei. Wenn man die Zusammensetzung der jüdischen Gemeinschaft betrachte, dann habe man zur Kenntnis zu nehmen, dass ca. 80 bis 85 % der Jüdinnen und Juden, die in Deutschland lebten, in den zurückliegenden 30 Jahren aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion zugewandert sind. Nach dem Zerfall der Sowjetunion sei Jüdinnen und Juden aus diesem Bereich in einem geregelten Verfahren ermöglicht worden nach Deutschland einzuwandern. Quasi über Nacht hätten sich die jüdischen Gemeinden in Deutschland in große Integrationsmaschinen entwickelt und ihre ganze Energie in die Durchführung von Deutsch- und Integrationskursen investiert. Es sei ein System einer engen Betreuung und Begleitung implementiert worden, das wirkungsvoll funktionierte und Modellcharakter habe. In Verbindung mit der Fluchtbewegung aus der Ukraine sei die Anzahl der Zugewanderten wieder angewachsen. In diesem Kontext hätten die bewährten Formen von Hilfe und Unterstützung für die Arbeit an der Integration wieder aktiviert werden können. Er meinte auch, dass im Prozess der Integration die Zugewanderten sich sowohl mit der Zuschreibung „du gehörst nicht dazu“ als mit der sich im inneren stellenden Frage, „gehöre ich eigentlich dazu“ auseinandersetzen müssten. Auf jeden Fall habe der Zuzug von Jüdinnen und Juden aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion das Überleben vieler jüdischen Gemeinden in Deutschland überhaupt erst gewährleistet.
In der Frage der Integration sah Lamya Kaddor wichtige Differenzen zwischen der Zuwanderungen von Jüdinnen und Juden seit den 1990er Jahren und der Migrationsgeschichte von Muslim:innen seit den 1960er Jahren. Die Zuwanderung der Muslim:innen sei weit überwiegend dem Narrativ der Gastarbeiter:in gefolgt. Daraus resultierten andere Ausgangsbedingungen für mögliche Integrationsbemühungen als aus der Perspektive, sich im Einwanderungsland mit einer längerfristigen Perspektive bzw. auf Dauer niederzulassen.
Sicherlich hätten auch Attentate wie in Mannheim und Solingen – auch im Kontext des Narrativs einer durch irreguläre Zuwanderung überforderten Gesellschaft – vorhandene Vorbehalte gegenüber dem Islam und Muslim:innen wieder verstärkt. Lamya Kaddor vertrat die These, dass sich eine Gesellschaft am Fremden abarbeite, da die Fremden der Mehrheitsgesellschaft in gewisser Weise auch einen Spiegel vorhielten.
In Antworten auf Statements und Fragen der Teilnehmenden wurde u. a. auf die enorme Relevanz sozio-ökonomischer Hintergründe für Radikalisierungsprozesse hingewiesen. Frau Kaddor meinte, dass eine religiöse Überzeugung allein nicht hinreichend sei, um Radikalisierungsprozesse zu erklären, auch Bildung allein schütze nicht vor Radikalisierung. Weiter seien städtebauliche Maßnahmen erforderlich, um Ghettoisierung zu vermeiden bzw. problematische Entwicklungen wieder zurückzuführen.
Schließlich vertrat Jens Spahn die These, dass die Gesellschaft in Deutschland nicht mehr in sich selbst ruhe. Nur eine in sich selbst ruhende Gesellschaft könne mit Fremdheit, Anderssein und Neuerungen gelassen umgehen. Diese Entwicklung sei insbesondere durch irreguläre Migration in massiver Größenordnung seit 2015 bedingt. Für ihn sei die Frage, ob es aus anthropologischer Sicht ein Zuviel an Vielfalt geben könne. Er gehe davon aus, dass die Menschen eine gewisse Erwartungssicherheit und Verlässlichkeit in ihrem Leben benötigen. Sei dies nicht mehr gewährleistet, würden Menschen gegenüber Fremden nicht mehr offen sein.
Unter einigen Teilnehmenden riefen manche Aussagen der Diskussion deutlichen Widerspruch hervor. So wäre es sicherlich notwendig gewesen, diese anthropologisch begründeten Thesen kritisch zu diskutieren. Auch die Bedingungen einer in sich ruhenden Gesellschaft hätten präziser reflektiert werden müssen. Anregungen zu weiteren Debatten boten ein knapper Bericht der Erfahrungen einer muslimischen Wohlfahrtsorganisation, der im Gespräch mit staatlichen Behörden entgegnet wurde, dass einige ihrer Aktivitäten angesichts aktueller Entwicklungen nicht mehr gefördert werden könnten wie auch die Einschätzung eines Teilnehmenden, dass bei Muslim:innen immer sehr genau hingeschaut würde, was gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, Chauvinismus usw. angehe, während man gegenüber anderen Gruppierungen, die ähnliche Haltungen zeigten, zurückhaltend sei. Manche erkannten in solchen Tendenzen, die Gefahr einer pauschalen Verdachtskultur gegenüber Muslim:innen.
Trotz unterschiedlicher Einschätzungen gegenüber Inhalten, Einschätzungen und Thesen der Diskussion wurde von den Beteiligten mehrfach gewürdigt, dass es dringend erforderlich sei, mehr solcher Formate für einen sachlichen Diskurs über diese Fragen anzubieten.
Klaus Waldmann